Wer beklagt, dass Europa erst am Ende des 144seitigen Textes behandelt wird, sollte genauer hinsehen. Denn Europa zieht sich durch alle Kapitel. Vielversprechend ist, dass die Europakoordinierung deutlich besser werden soll. Wöchentliche Staatssekretärsrunden beim Kanzleramtschef können Silodenken aufbrechen und die „German Vote“ beenden. Europa wird wieder zur Chefsache, und die Ressorts sollen besser zusammenarbeiten.
Der Kanzler in spe hat Erfahrung als Europaparlamentarier und ist ein überzeugter Verteidiger der Werte, die Europa und die USA lange Zeit verbunden haben. Dass Kanzleramt und Auswärtiges Amt in guter Abstimmung agieren, wird wichtig sein. Der voraussichtliche Vizekanzler wird die Europapolitik als Bundesfinanzminister gemeinsam mit dem Kanzler und seinem Amtschef und, in Anbetracht der geopolitischen Lage, dem Bundesverteidigungsminister prägen können. Das wirkt gut ausbalanciert und, wenn das Vertrauen zueinander stimmt, sehr vielversprechend. Deutschland soll, so haben es die künftig wahrscheinlich Regierenden erklärt, wieder mehr Verantwortung in und für Europa übernehmen. Das ist gut so und auch höchste Zeit.
So oder so kommt das Wichtigste in diesem Koalitionsvertrag zuletzt. Die Außen- und die Sicherheitspolitik und Europa. Denn die Innenpolitik bestimmt darüber, wie man lebt, die Außenpolitik, ob man lebt. Und die Europapolitik ist bekanntlich ohnehin beides zugleich, Innen- wie, man denke an die Bedeutung Brüssels in Handelsfragen, Außenpolitik. Und schließlich, ganz zuletzt, folgen Neuerungen zur Arbeitsweise der Bundesregierung, die womöglich wichtiger sind als alles andere.
Vielfach ist gesagt worden, erfolgreiches Regieren in einer solchen Koalition setze voraus, dass man sich vorab auf die politischen Maßnahmen der Legislaturperiode verständigt habe. Ein wenig merkwürdig mutet das schon an. Denn die Welt steht eben nicht still. Ständig ändern sich die Bedingungsfaktoren für das Regierungshandeln. Auch diese Koalitionsregierung wird mit unvorhergesehenen Entwicklungen konfrontiert sein. Deshalb sind die vereinbarten Mechanismen zur Arbeit der Bundesregierung von größter Bedeutung.
Viele überzeugte Europäerinnen und Europäer muss enttäuschen, dass die Grenzkontrollen bleiben sollen, bis die Kontrollen an den EU-Außengrenzen besser funktionieren. Immerhin verknüpfen die Koalitionäre dies aber mit einem klaren Bekenntnis zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und zu gemeinsamen europäischen Lösungen. In der ein oder anderen inhaltlichen Festlegung, europäische Reformen betreffend, hätte man sich auch mehr wünschen können.
Auch hier darf jedoch nicht vergessen werden, dass am Ende nicht der Wortlaut des Koalitionsvertrags zählt, sondern die konkrete Politik. Und die wird nicht allein von den deutschen Regierungsparteien bestimmt werden, sondern im Konzert mit den europäischen Partnern und immer in Zusammenhang mit dem Weltgeschehen. Und dass dieses mehr Europa einfordert, um in der neuen Weltordnung nicht vom Subjekt zum Objekt zu werden und die gemeinsamen Werte, die freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie verteidigen zu können, liegt auf der Hand.
Die überparteiliche Europa-Union, die seit bald 80 Jahren als gemeinnütziger und politischer Verein mit bürgerschaftlichem Engagement zur Verwirklichung eines zentralen deutschen Staatsziels beiträgt, wird die Regierungsarbeit konstruktiv-kritisch begleiten und weiter für den Europäischen Bundesstaat werben, ohne den es schwer werden dürfte, einen sicheren Platz in der neuen Weltordnung zu behaupten.
Christian Moos, Generalsekretär der Europa-Union Deutschland e.V.